Wer wegen Elternpflege seinen Job kündigt, handelt nicht sozialwidrig

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Personal zur Betreuung pflegebedürftiger Menschen ist in Deutschland knapp. Mehr als knapp sogar. Auch deshalb liegt die Pflege der Betroffenen vielfach in den Händen der Familie, was zudem auch in vielen Fällen genauso gewünscht wird. Doch dann stellt sich vor allem für die – zumeist betroffenen – Töchter die Frage, wie Job und Pflege vereinbar sind. Oft sind sie es nicht.

Genau über einen solchen Fall wurde vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen entschieden (Az. L 13 AS 162/17). Es ging um eine Tochter, die für ihre Mutter ihren Job aufgegeben hatte – um diese zu pflegen. Das ist nicht sozialwidrig, befand das LSG und wies die vom zuständigen Jobcenter verhängten Sanktionen zurück.

Verhandelt wurde vor dem LSG über die Auslegung von § 10 des zweiten Sozialgesetzbuchs. Danach ist im Grundsatz einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person "jede Arbeit zumutbar". Eine Ausnahme gilt unter anderem dann, "wenn die Ausübung der Arbeit mit der Pflege einer oder eines Angehörigen nicht vereinbar ist".

Wann dies der Fall ist, das ist Auslegungssache und hängt von der jeweiligen Fallkonstellation ab. Wird die Aufnahme oder Fortführung einer zumutbaren Arbeit abgelehnt, so droht im Grundsatz auch gleich die "Höchststrafe", die in § 34 SGB II geregelt ist, der die Überschrift trägt: "Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten".

Danach gilt: Ein Volljähriger, der "vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen ... ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, ist zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet". Gestützt auf diese Regelung forderte das Jobcenter von einer 38-jährigen Frau 17.100,– € zurück.

Ihr Vergehen: Sie hatte, um ihre Mutter pflegen zu können, ihre Vollzeitstelle aufgegeben. Der Mutter war – nach dem altem Recht der Pflegeversicherung – Pflegestufe II zuerkannt worden. Das entspricht heute Pflegegrad 3. Die Tochter war in Vollzeit als Hallenaufsicht am Bremer Flughafen beschäftigt. Zudem erforderte die Tätigkeit einen Schichtdienst, wobei der Arbeitgeber die Schichtverteilung nur vier Tage im Voraus mitteilte.

Da dies mit der Betreuung der Mutter, die mehrmals täglich Pflege benötigte, nicht vereinbar war, schloss die Betroffene mit ihrem Arbeitgeber einen Aufhebungsvertrag und gab ihre Stelle auf.

Das Jobcenter sah hierin ein sozialwidriges Verhalten. Die Mutter habe lediglich Pflegestufe II gehabt, zudem habe die Tochter die Pflege nicht selbst übernehmen müssen, das habe auch ein Pflegedienst übernehmen können. Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses sei daher grob fahrlässig erfolgt.

Das sah das Landessozialgericht anders. Es wies die Forderung auf Rückzahlung der Leistungen zurück. Grundsätzlich seien der Tochter Arbeitszeiten von bis zu sechs Stunden täglich zumutbar gewesen. Doch mit der Schichtarbeit sei die Pflege nicht vereinbar gewesen. Im Prinzip sei zwar zu prüfen, ob die Pflege durch andere habe sichergestellt werden können.

Dies sei hier aber nicht der Fall gewesen. Bei der erforderlichen Einzelfallbeurteilung der Sicherstellung einer Pflege durch Dritte sei "ebenfalls die Überlegung mit einzubeziehen, ob die Pflegeperson dem zustimmt, denn der zu Pflegende bleibt ein eigenständiges Individuum mit Selbstbestimmungsrecht". Im verhandelten Fall sei die Mutter hierzu keinesfalls bereit gewesen.

Die Weisungen der Bundesagentur für Arbeit sehen vor, dass aktuell bei der Pflege einer Person mit den Pflegegraden 4 und 5 die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit generell unzumutbar ist. Hat der Angehörige Pflegegrad 1, so ist eine Vollzeittätigkeit zumutbar. Bei Pflegegraden 2 und 3 ist je nach Einzelfall eine Erwerbstätigkeit von bis zu sechs Stunden zumutbar.

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