Erwerbsminderungsrente bei fehlender Gehfähigkeit

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Rentenversicherte müssen sich kein Auto anschaffen, um trotz einer Gehbehinderung ihren Arbeitsplatz erreichen zu können. Die Abschaffung eines Pkw stellt keine rentenschädliche Herbeiführung des Anspruchs auf Erwerbminderungsrente dar.

Diese fast etwas absurd anmutende Aussage findet sich in einem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen (Az. L 4 R 1015/20).

Was dahinter steht: Die Deutsche Rentenversicherung hatte tatsächlich einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente abgelehnt, weil die Betroffene ihren Pkw abgeschafft hatte.

Worum geht es beim Anspruch auf Erwerbminderungsrente?

Eine Erwerbsminderung im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung kann auch bei mangelnder Gehfähigkeit vorliegen, selbst wenn ein Versicherter noch vollschichtig arbeiten kann. Die Fähigkeit zu gehen besteht – so hat es das Bundessozialgericht typisierend festgelegt –, solange ein Versicherter viermal am Tag Wegstrecken von über 500 Metern innerhalb von 20 Minuten zu Fuß bewältigen kann. Wer das nicht kann, gilt als gehunfähig.

Genau diese Art von Gehunfähigkeit lag im Fall einer schwerbehinderten Versicherten aus Nordrhein-Westfalen vor. Die als Gutachterin angehörte Orthopädin war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Betroffene noch nicht einmal Strecken über 300 Metern bewältigen könne. Ein weiterer Sachverständiger hielt sogar eine Wegstrecke von 100 Metern vier Mal täglich in angemessener Zeit für nicht zu bewältigen. Das wurde von der Deutschen Rentenversicherung auch nicht infrage gestellt.

Der Knackpunkt war, dass die fehlende Gehfähigkeit unter Umständen kompensiert werden kann, wenn der Arbeitsplatz mit einem Pkw oder auf andere Weise erreicht werden kann. Hier kommt das Auto ins Spiel, das die Klägerin am 11.9.2019 abgemeldet hatte. Das warf ihr die Deutsche Rentenversicherung vor. Sie habe es sich nämlich durch das Abschaffen des Pkw selbst unmöglich gemacht, einen Arbeitsplatz zu erreichen.

Dass finanzielle Gründe für die Abschaffung maßgebend waren – und nicht etwa der Wille, die Erwerbsminderungrente zu erschleichen –, ist im verhandelten Fall offensichtlich: Die Versicherte war arbeitslos und verfügte nach dem Auslaufen des Arbeitslosengelds über keinerlei eigene Einkünfte – wovon sollte sie weiterhin ihren Pkw unterhalten?

Muss ich mir ein Auto kaufen, wenn ich nicht mehr laufen kann?

Für Versicherte bestehe auch grundsätzlich keine Mitwirkungspflicht etwa in der Hinsicht, dass sie einen Pkw anschaffen oder behalten müssen, befand das LSG. Warum die Versicherte keinen Pkw besaß, spiele rentenrechtlich keine Rolle. Einzig komme es darauf an, dass der Versicherten kein Pkw zur jederzeitigen Nutzung zur Verfügung stehe.

Daher sei ihr wegen Gehunfähigkeit die Rente wegen voller Erwerbsminderung zuzugestehen, befand das LSG Nordrhein-Westfalen. Die erforderliche jederzeitige Verfügbarkeit eines Pkw, um ihre aufgehobene Fähigkeit zu kompensieren, die relevanten Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen, lasse sich nicht feststellen.

Das Gericht äußert allerdings recht klar sein Unverständnis über das Vorgehen der Deutschen Rentenversicherung im verhandelten Fall. Dieser obliege es durch Mobilitätshilfen im Rahmen von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben die Gehunfähigkeit der Betroffenen auszugleichen. Dafür stünden verschiedene Maßnahmen zur Verfügung, z.B. durch Kfz-Hilfe oder Beteiligung an Fahrtkosten. Dass die Versicherung solche Angebote nicht gemacht habe, ist für das LSG nicht nachvollziehbar.

Letztlich hat auch die Deutsche Rentenversicherung Einsicht gezeigt und ihre zunächst beim Bundessozialgericht (BSG) eingereichte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision beim BSG zurückgezogen. Damit ist das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen rechtskräftig geworden.

(MS)

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