BSG lockert Zwangsrente für Hartz-IV-Bezieher
Wer Grundsicherung für Arbeitsfähige bezieht (Hartz IV), muss in der Regel die Rente mit 63 Jahren beantragen und Abschläge hinnehmen. Allerdings gibt es Ausnahmen, die das Bundessozialgericht jetzt neu definiert hat.

BSG lockert Zwangsrente für Hartz-IV-Bezieher

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Wer Grundsicherung für Arbeitsfähige bezieht (Hartz IV), muss in der Regel die Rente mit 63 Jahren beantragen und Abschläge hinnehmen. Allerdings gibt es Ausnahmen, die das Bundessozialgericht jetzt neu definiert hat.

Am 9.8.2018 hat sich das Bundessozialgericht (BSG) mit der Zwangsverrentung von Hartz-IV-Beziehern befasst. Das Gericht befand: Ein älterer Arbeitsloser ist nicht verpflichtet, mit 63 in eine Rente mit hohen Abschlägen zu gehen, wenn er einige Monate später eine Altersrente ohne Abschläge erhalten kann (Az. B 14 AS 1/18 R).

"Vorrangige Leistungen" lautet die Überschrift von § 12a des zweiten Sozialgesetzbuchs (SGB II). Er regelt: Bevor jemand Arbeitslosengeld (ALG) II erhalten will, muss er zunächst andere, ihn zustehende Sozialleistungen in Anspruch nehmen, denn das ALG II wird nicht vorrangig, sondern nachrangig gezahlt. Andere Leistungen gehen also vor.

Ausnahmen bei der Rente ab 63

Wenn es um die gesetzliche Altersrente geht, gibt es allerdings Ausnahmen. Wer schon vor dem 63. Lebensjahr Anspruch auf eine Altersrente hat, muss diese ohnehin nicht beantragen. Das steht schon im Gesetz. Das betrifft heute aber allenfalls noch Schwerbehinderte.

Weitere Ausnahmen sind in der sogenannten Unbilligkeitsverordnung festgehalten. Sie regelt, wann es unbillig (also ungerecht) wäre, ALG-II-Beziehenden ab 63 das Arbeitslosengeld II zu streichen und sie dadurch zu zwingen, einen Rentenantrag zu stellen.

Bisher galt: Regelaltersgrenze muss innerhalb von drei Monaten erreicht sein

Die Verordnung nennt eine Reihe von Ausnahmen vom Rentenzwang. Unter anderem ist in Paragraf 3 geregelt, dass ein Rentenantrag auch dann nicht zumutbar ist, wenn Hilfebedürftige in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen können. In nächster Zukunft: Das bedeutet längstens drei Monate.

Vor dem BSG wurde nun darüber gestritten, ob diese Drei-Monats-Frist auch für die erst 2012 eingeführte und 2014 aufgebesserte vorgezogene Altersrente für besonders langjährig Versicherte gilt, die ebenfalls abschlagsfrei gezahlt wird.

Dabei ging es um einen Mann, der knapp 46 Jahre gearbeitet hatte, bis er mit 60 Jahren in Hartz IV rutschte. Als er seinen 63. Geburtstag und damit die Altersgrenze für die Altersrente für langjährig Versicherte (ohne den Zusatz "besonders") erreichte, forderte ihn das Jobcenter auf, diese zu beantragen. Dabei hätte er lebenslang Rentenabschläge von etwa 100,– € im Monat hinnehmen müssen. Vier Monate später hätte er jedoch Anspruch auf die abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte gehabt.

BGG erweitert Ausnahmeregeln: Vier Monate Hartz IV bis zu Altersrente

Das BSG hielt es in diesem Fall wegen der hohen Rentenabschläge für unzumutbar, den Betroffenen mit 63 Jahren auf die mit Abschlägen belegte vorgezogene Altersrente zu verweisen. Eine "zusätzliche Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen von vier Monaten bei einer durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von gegenwärtig nahezu 20 Jahren [sei] so kurz, dass der Verweis auf eine dauerhaft geminderte Altersrente einem Leistungsberechtigten nicht zuzumuten" sei.

Das Gericht vermied allerdings eine Festlegung, ob das auch dann gilt, wenn der ALG-II-Bezieher fünf oder sechs Monate bis zur abschlagfreien Rente für besonders langjährig Versicherte zu überbrücken gehabt hätte.

Bedürftigkeit im Alter soll möglichst vermieden werden

Es gibt darüber hinaus eine Reihe von weiteren Fällen, in denen die Verweisung auf die Altersrente nach der Unbilligkeitsverordnung als unbillig gilt. Vor allem soll seit Anfang 2017, als die Verordnung geändert wurde, möglichst vermieden werden, dass ältere Beziehende von Leistungen nach dem SGB II durch den vorzeitigen Rentenantrag zu Sozialhilfebeziehenden werden.

Seitdem muss die vorgezogene Altersrente nicht (mehr) in Anspruch genommen werden, wenn die dann zu erwartende Rente so niedrig wäre, dass sie durch Sozialhilfe bzw. Grundsicherung im Alter aufgestockt werden müsste.

Das gilt, wenn 70% der zu erwartenden Altersrente bei Erreichen der regulären Altersgrenze den aktuellen SGB-II-Regelbedarf des Betroffenen zu dem Zeitpunkt, an dem über die Zwangsrente entschieden wird, unterschreitet. Was das bedeutet, verdeutlicht folgendes Beispiel.

Rechenbeispiel

Eine am 17.9.1954 geborene verheiratete Hartz-IV-Bezieherin erreicht die reguläre Altersgrenze für die Rente am 17.5.2020. Am 17.9.2017 wurde sie 63. Das Jobcenter forderte sie Anfang April 2017 zur Vorlage der aktuellen Rentenauskunft auf, die sie einige Tage später, am 14.4.2017, vorlegte. Sie hatte zu dieser Zeit einen persönlichen Regelbedarf (Regelsatz plus Unterkunftskosten) von 639,– € . Aus ihrem Rentenbescheid ging hervor, dass sie mit 65 Jahren und acht Monaten eine Regelaltersrente von 907,– € erreicht. 70 % davon sind 634,90 €, also weniger als ihr persönlicher Hartz-IV-Gesamtbedarf im April 2017. Sie wurde deshalb nicht aufgefordert, einen Antrag auf vorzeitige Rente zu stellen. Hätte sie eine nur um 10,– € höhere Rente bei Erreichen der Regelaltersgrenze bekommen, müsste sie mit der Zwangsverrentung ab 63 und entsprechenden lebenslangen Rentenabschlägen rechnen.

Bisheriger Ausnahmekatalog bleibt bestehen

Nach der Verordnung ist ein vorzeitiger Rentenantrag auch in folgenden Fällen nicht zumutbar.

Erwerbstätige: Wer sozialversichert beschäftigt oder selbstständig tätig ist und aufstockendes ALG II erhält, darf mit 63 von den Ämtern nicht auf einen Rentenantrag verwiesen werden. Die Erwerbstätigkeit muss jedoch "den überwiegenden Teil der Arbeitskraft in Anspruch nehmen".

Der zeitliche Umfang der Beschäftigung eines Arbeitnehmers mit aufstockendem ALG II muss dabei "mindestens die Hälfte der im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit möglichen Arbeitszeit in Anspruch nehmen", so die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit.

Bevorstehende Erwerbstätigkeit: Auch diejenigen, die durch Vorlage eines Arbeitsvertrags oder einer verbindlichen Einstellungszusage glaubhaft machen, dass sie in nächster Zukunft eine Erwerbstätigkeit aufnehmen werden, dürfen in der Regel mit 63 nicht aufgefordert werden, eine Rente zu beantragen.

Bezieher von ALG II plus ALG I: Arbeitslosengeld II wird oft auch als Aufstockung eines niedrigen Arbeitslosengelds I gezahlt. Reicht die Versicherungsleistung ALG I der Arbeitsagenturen nicht aus, um den Lebensunterhalt zu decken, besteht häufig zusätzlich Anspruch auf ALG II. Auch in diesen Fällen besteht keine Pflicht zur vorzeitigen Rente. 

(MS)

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